Die Tugend des Wartens

Viele können das Ende der Krise kaum erwarten. Die heutige Zeit hat uns die Geduld abtrainiert. Dabei ist Warten zu können eine Kompetenz, die wir fürs Leben brauchen.

Einfach einmal stehen bleiben. Die Zeit zu überbrücken, die keinen Sinn zu haben scheint. Die Momente an einem Dienstagabend an einer Bushaltestelle, an einem Donnerstag im Wartezimmer einer Praxis. Den zeitlichen Raum zwischen dem einen Ende und dem nächsten Anfang.

Im Grunde warten wir ständig. Wir warten auf den Zug, wir warten auf eine Antwort per Mail, wir warten auf die grosse Liebe und irgendwann auch auf den gnädigen Tod. Wir warten darauf schwanger zu werden oder auf die Kündigung; manchmal haben wir Angst dabei, manchmal sind wir voller Hoffnung.

Doch was wir da ständig müssen, das hassen wir. Corona macht das ewige Warten noch schlimmer. Seit Monaten fliesst die unsichtbare Gefahr zäh durch unser Leben und stellt alles auf Dauerschleife, kein Ende in Sicht, immer neue Einschränkungen, so wenig Reize, so viel Ungewissheit, und wir: die ewig Wartenden, auf einen Impfstoff, darauf, wieder ans Meer zu fahren, Yoga zu praktizieren oder wieder zu tanzen.

Da sind die Geduldigen klar im Vorteil. Geduld ist eine Mischung aus Selbstkontrolle, Frustrationstoleranz und Ausdauer – und macht einen Menschen nachweislich erfolgreicher und glücklicher. Denn das Wartenkönnen ist für viele wesentliche Prozesse des Lebens unabdingbar: Für Fokus, Leistung, Erfolg, wirtschaftlichen Gewinn, für eine funktionierende Partner- schaft, für einen Marathon. Wir können zwar heute sofort sehen, ob unser Partner die Whatsapp-Nachricht gelesen hat – und doch braucht die Liebe Geduld und Zeit. Wir können uns das Buch im Internet zwar sofort kaufen – und doch dauert es lange, uns das Wissen das darin steht, auch anzueignen.

Digitalisierung und Kapitalismus haben grosses Interesse daran, uns jeden Anspruch auf Geduld auszutreiben. Jeder Kaufreiz muss oder kann sofort gestillt werden. Nie war es einfacher, vermeintlich nie wieder auf etwas warten zu müssen. Mit dem Smartphone in der Hand können wir jede Sekunde unseres Lebens bespielen. Kaum stehen wir irgendwo, holen wir das Gerät aus der Tasche und nutzen vermeintlich ein wenig Zeit. Warten scheint sinnlos – und bereits vor der Digitalisierung galt: Zeit ist Geld.

Dabei sind Pausen und Leerräume für die psychische Gesundheit unabdingbar. Ruhezeiten, auch kurze, lassen das Gehirn Eindrücke besser verarbeiten, das parasympathische Nervensystem wird aktiviert, die Kreativität beflügelt und der Fokus geschärft. Es ist wie bei einem Musikstück: Die Pausen zwischen den Noten gehören genauso zum Klang wie die Noten selbst. Wer sich selbst keinerlei leere Zeit gönnt, brennt irgendwann aus. Warten ist also keine Zeitverschwendung, sondern kann, richtig eingesetzt, eine wertvolle Ressource sein.

Und gerade in den jetzigen Zeiten, inmitten der Corona-Krise, ist das Warten eine unabdingbare Realität. Die Krise fordert unsere Geduld heraus. Unseren Willen, in der Untätigkeit sitzen zu können. Wir müssen klarkommen damit, dass wir auf ein Ende warten, das noch nicht absehbar ist.

Viele Menschen kommen mit dem vermeintlichen Kontrollverlust schlecht zurecht, fühlen sich untätig. Selten haben wir in den letzten Jahrzehnten eine Zeitspanne erlebt, die uns so sehr auf uns zurückgeworfen hat, darauf, was bleibt, wenn der Kalender leer ist, nicht mehr alles verplant ist, nicht mehr Ablenkung und Leistung à gogo.

Wie unangenehm wir Warten grundsätzlich empfinden, hängt gar nicht davon ab, wie lange es tatsächlich dauert, bis das Ereignis eintritt. Entscheidend ist, wie lange sich die Wartezeit anfühlt. Das Zeiterleben ist subjektiv: Manchmal fliegt sie dahin, dann fühlt sich alles wieder ewig an. Das hat damit zu tun, wie gefordert unser Gehirn gerade ist. Sind wir im Stress oder mit etwas beschäftigt, hat unser System keine Kapazitäten mehr, sich um die Zeit zu kümmern. In der Schlange vor der Supermarktkasse ist das nicht gegeben. Wir füjlen uns ausgeliefert, gelangweilt . und reagieren deshalb gereizt, wenn sich jemand vordrängelt.

Die Weichen für Geduld und Durchhaltewillen werden bereits im Kindesalter gestellt. Kinder merken sich schnell, ob sich das Warten lohnt. Je verlässlicher das Umfeld, desto eher sind Kinder bereit, länger auf eine Belohnung zu warten: Verlässlichkeit kann die Wartezeit von Kindern sogar verdoppeln. Ernst Fehr von der Universität Zürich fand heraus, dass das Elternhaus der Kinder einen Einfluss darauf hat, wie geduldig sie werden. Sein Fazit: Sie werden genau so geduldig oder ungeduldig wie ihre Eltern.

Warten zu könne, kann man erben und auch lernen. Und es ist gesund. Forscherinnen fanden einen Zusammenhang zwischen Ungeduld und Spielsucht, Ungeduld und höherem Alkoholkonsum, stärkerem Rauchen und ungsünderem Essverhalten.

Wenn du also das nächste Mal warten musst: Atme durch, nutze die erzwungene Pause dazu, dein Nervensystem zu beruhigen, denke an etwas Schönes. Oder unterhalte dich mit einem Menschen, der ebenfalss wartet. Auch das ist wissenschaftlich bewiesen: Menschen, die ihre Wartezeit teilten, empfanden sie als weniger lang. Viel Freude beim Ausprobieren! Om Shanti :)!

Quelle: Anna Miller

Ich wünsche dir von Herzen gute Gesundheit, Vitalität und Lebensfreude!

Herzlichst!

Deine Margot